Durch ein viel kommentiertes Urteil vom 25. Oktober 2017 Polbud[1] hat der EuGH es Gesellschaften erlaubt, durch eine Verlegung des Satzungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat ihre « Nationalität » zu wechseln, selbst wenn sie ihren realen Sitz im Ursprungsmitgliedstaat behalten. Dadurch ermöglicht der Gerichtshof den Gesellschaften gewissermaßen die Wahl des auf sie anwendbaren Gesellschaftsrechts, soweit sie die Formalitäten des Zuzugsstaates berücksichtigen.
Es kann für eine Gesellschaft von Interesse sein, entweder ihre Geschäftsleitung („Verwaltungssitz“) oder ihren Ort der Registrierung, was auch üblicherweise das auf sie anwendbare Gesellschaftsrecht umfasst (Satzungssitz) in ein anderes Land zu verlegen. Die Gründe für eine derartige Sitzverlegung sind vielfältig, liegen jedoch häufig in der Suche des attraktivsten Gesellschafts- oder Steuerrechts. Im Rahmen der Europäischen Union waren derartige Sitzverlegungen nicht nach dem Recht aller Mitgliedstaaten möglich und führten – und führen teils immer noch – zur nicht erwünschten Folge der Auflösung der Gesellschaft oder ihres Formwechsels.
Aufgrund der Niederlassungsfreiheit hat das Unionsrecht nach und nach die Möglichkeiten solcher Sitzverlegungen zugelassen: Einerseits durch das europäische Sekundärrecht, welches seit zahlreichen Jahren darauf zielt, das Gesellschaftsrecht zu harmonisieren, insbesondere durch grenzüberschreitende Verschmelzungen, Spaltungen, Sitzverlegungen oder Formwechsel. Auch wenn es zutrifft, dass die Verschmelzungsrichtlinie nur für Kapitalgesellschaften gilt, wurde die Societas Europaea (SE) u.a. geschaffen, um ihren Sitz vereinfacht in einen anderen Mitgliedstaat verlegen zu können. Eine Richtlinie zur Sitzverlegung oder zum grenzüberschreitenden Formwechsel ist jedoch noch nicht verabschiedet worden.
Andererseits verteidigt der Gerichtshof der Europäischen Union seit 1988[2] das Prinzip der Freiheit des Sitzwechsels und Formwechsels innerhalb der Europäischen Union durch Sitzverlegungen oder Verschmelzungen.
Die Besonderheit in der Entscheidung Polbud liegt darin, dass der Gerichtshof das Prinzip der Niederlassungsfreiheit auch in einem Fall anerkannt hat, in dem der Satzungssitz – dh der Ort der Registrierung der Gesellschaft – in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird, obwohl der Verwaltungssitz – dh das Zentrum der Tätigkeit der Gesellschaft – noch in dem Ursprungsmitgliedstaat verblieb.
1. Niederlassungsfreiheit schützt auch die Verlegung des Satzungssitzes bei Beibehaltung des Verwaltungssitzes
In der Entscheidung geht es um die polnische Gesellschaft Polbud, welche entschieden hatte, ihren Satzungssitz nach Luxemburg zu verlegen, dabei jedoch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Polen beibehielt. Nach Eintragung ins Handelsregister von Luxemburg als luxemburgische Gesellschaft hatte Polbud ihre Streichung im polnischen Handelsregister verlangt. Dieser Antrag wurde abgelehnt, denn das polnische Register verlangte, dass die Gesellschaft zuvor liquidiert und abgewickelt werden müsse (was selbstverständlich verwaltungsrechtliche, steuerliche und finanzielle Folgen gehabt hätte).
Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens hatte der EuGH darüber zu entscheiden, ob die polnischen Bestimmungen, welche die Liquidation verlangten, mit dem Europarecht, insbesondere der Niederlassungsfreiheit[3], vereinbar sind.
Nach der Entscheidung des EuGH hatte die Gesellschaft wirksam ihren Satzungssitz verlegt, unter Beachtung der Erfordernisse des Zuzugsstaates, gleich wo sich ihr Verwaltungssitz befindet. Der Wegzugstaat durfte folglich nicht die Liquidation der Gesellschaft fordern, wenn sein eigenes nationales Recht bei einem nationalen Formwechsel eine solche nicht fordert. Das Grundprinzip ist hier nicht neu, aber der EuGH erweitert wesentlich die Niederlassungsfreiheit.
Im Vergleich zur bisherigen Rechtsprechung[4], die sich mit diesen Themen befasst, hatte der EuGH in der Sache Polbud im Wesentlichen über zwei neue Gesichtspunkte zu befinden:
- Es ging hier um eine Einschränkung auf Seiten des Wegzugstaates, während die meisten einschlägigen Entscheidungen Einschränkungen des Zuzugsstaates betreffen.
- Fraglich war, ob Polbud sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen konnte, obwohl sie – zumindest vorerst – ihre Tätigkeit gar nicht in einen anderen Mitgliedstaat verlagern wollte.
Indem der EuGH die Gesellschaft Polbud auch für einen solchen Fall in den Genuss der Niederlassungsfreiheit kommen lässt, bestätigt der EuGH seine sehr weite Auslegung der Niederlassungsfreiheit. Diese Freiheit umfasst folglich nach dem EuGH auch das Recht für eine Gesellschaft, im Ergebnis das auf sie anwendbare Gesellschaftsrecht zu wählen, ohne den Verwaltungssitz zu ändern.
2. Ablehnung anderer Einschränkungen als diejenigen des Zuzugsstaates
Jegliche Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit müssen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein im Interesse der öffentlichen Ordnung. Ohne große Überraschung hat der EuGH hier den Vortrag, dass die Regelung notwendig sei zum Schutz der Gläubiger, Minderheitsgesellschafter und Arbeitnehmer, abgelehnt, und hat befunden, dass das Erfordernis eines Liquidationsverfahrens unverhältnismäßig sei, soweit der Staat in seinem nationalen Recht einen Formwechsel erlaube. Es ist zutreffend, dass die Interessen der Gläubiger, Minderheitsgesellschafter und Arbeitnehmer durch die Sitzverlegung beeinträchtigt sein können. Dennoch könnten diese Interessen auch durch weniger einschneidende Maßnahmen wie Konsultierungs-, Veröffentlichungspflichten oder die Pflicht zur Gewährung von Sicherheiten etc. ebenfalls geschützt werden.
3. Risiken und Perspektiven für die Sitzverlegung innerhalb der Europäischen Union
Der EuGH verwirft in seiner Entscheidung Polbud jeglichen Gedanken des Rechtsmissbrauchs durch die Verwendung der Niederlassungsfreiheit mit dem Ziel, sich eine günstigere Rechtsordnung auszuwählen[5], trotz der oft künstlichen Trennung von Satzungssitz und Ort der tatsächlichen Aktivität der Gesellschaft. Die wohlwollende Auslegung wird verstärkt zum forum shopping führen. Mangels Harmonisierung des Kriteriums zur Bestimmung der „Nationalität“ der Gesellschaften sind allerdings vor Durchführung eines jeden Vorhabens zur Sitzverlegung die Rahmenbedingungen genau zu prüfen.
Die Gesellschaften, die von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen, sollten von daher genau prüfen, ob der geplante Zuzugsstaat die Sitzverlegung akzeptiert, wenn die Geschäftstätigkeit im Wesentlichen im Wegzugstaat verbleibt. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass das forum shopping seine Grenzen in anderen Rechtsgebieten findet, welche andere Anknüpfungskriterien für ihre Anwendung kennen, wie zB das Insolvenzrecht oder Arbeitsrecht…
Das französische Recht stellt derzeit im Wesentlichen auf den Satzungssitz ab[6], allerdings ergänzt um eine Berücksichtigung des Ortes der wesentlichen Geschäftstätigkeit im Falle des Missbrauchs. Umgekehrt ergibt sich aus einem reinen Verwaltungssitz noch keine Pflicht zur Eintragung, so dass der Sitz einer in Frankreich eingetragenen Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat verlegt werden könnte, ohne Einfluss auf den Verwaltungssitz.
Aufgrund der Schwierigkeiten wegen der unterschiedlichen Anknüpfungspunkte sind jüngst im Rahmen des Entwurfs einer 14. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie Studien zu den Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Sitzverlegung gewidmet worden, ohne dass die Europäische Kommission bisher überzeugt werden konnte, einen erneuten Richtlinienvorschlag vorzulegen.
In Abwesenheit einer einheitlichen europäischen Regelung ist sicher, dass der „Wettbewerb“ der nationalen Gesellschaftsrechte, um Sitze von Gesellschaften und Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts anzuziehen, sich nach dieser Entscheidung weiter verstärken wird.
Dr. iur. Antje Luke, Jessica Noy-Gsell
[1] Entscheidung vom 25. Oktober 2017, Polbud, C-106/16, ECLI:EU:C:2017:804.
[2] Daily Mail (CJCE 27. Sept. 1988, Rs. C-81/87), Centros (9. März 1999, Rs. 212-97), Überseering (5. Nov. 2002, Rs. C-208/00, Inspire Art (30. Sept. 2003, Rs. C-167/01), SEVIC (13. Dez. 2005, Rs. C-411/03), Cartesio (16. Dez. 2008, Rs. C-210/06) und VALE (12. Juli 2012, Rs. C-378/10).
[3] Art. 49 und 54 AEUV.
[4] Insbesondere die Entscheidung Cartesio vom 16. Dezember 2008, C-210/06, EU:C:2008:723.
[5] Entscheidung vom 25. Oktober 2017, POLBUD, C-106/16, ECLI:EU:C:2017:804, n. 40 : « … für sich allein keinen Missbrauch darstellt, wenn eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen…. »
[6] Artikel 1837 des frz. Code civil oder L. 210-3 des frz. Handelsgesetzbuches.