Die für Arbeits- und Sozialsachen zuständige Kammer des französischen Kassationshofs (oberste Gerichtshof) hat in einigen medienträchtigen Verfahren1 dadurch Aufsehen erregt, dass sie ausländische Muttergesellschaften eines Konzerns nach der Schließung des französischen Standorts bzw. der Insolvenzeröffnung gegen die französische Tochtergesellschaft, zur Zahlung von Kündigungsabfindungen zugunsten der Arbeitnehmer der französischen Tochtergesellschaft verurteilt hat.
Diese Haftung von Muttergesellschaften gegenüber Arbeitnehmern der Tochtergesellschaft gründet auf einem reinen Rechtssprechungskonzept, der sogenannten „Mitarbeitgeberschaft“ („co-emploi“), die neben dem sogenannten „Florange-Gesetz“ wütet, welches in Kreisen der Industrie ebenfalls nicht unbemerkt geblieben ist2 Nachdem der Kassationshof die Möglichkeiten zur Heranziehung der „Mitarbeitgeberschaft“ als rechtliche Grundlage eingeschränkt hat, können die entlassenen Arbeitnehmer einer Tochtergesellschaft die Muttergesellschaft alternativ ggf. auf der Grundlage der Deliktshaftung verklagen.
I. Wann ist eine „Mitarbeitgeberschaft“ gegeben?
Für den Fall, dass zwischen den Arbeitnehmern einer Tochtergesellschaft und deren Muttergesellschaft ein Unterordnungsverhältnis entsteht, kann die Muttergesellschaft als Arbeitgeberin eingestuft werden. Man spricht dann von „Mitarbeitgeberschaft“, weil die Arbeitnehmer zwei Arbeitgeber haben, gegenüber denen sie Entschädigungsansprüche geltend machen können, was im Falle einer Standortschließung ihre Chancen auf möglichst attraktive Entschädigungsprämien erhöht. Auch wenn es schockierend erscheinen mag, dass sich eine florierende Muttergesellschaft vom französischen Markt zurückzieht und die Arbeitnehmer ihrer Tochtergesellschaft ihrem Schicksal überlässt, ohne die gesetzlichen sowie tarifvertraglichen Entschädigungszahlungen zu leisten, darf man nicht außer Acht lassen, dass eine ‚Durchgriffshaftung‘ sowie eine allzu häufige Infragestellung des Autonomieprinzips der juristischen Person ausländische Investoren abschrecken mag.
Im Fall „Jungheinrich“3 entschloss sich die deutsche Muttergesellschaft, den Geschäftsbereich ihrer Tochtergesellschaft auf eine andere Konzerngesellschaft zu übertragen, den Standort zu schließen und eine Liquidation, d.h. ohne Einleitung eines Insolvenzverfahrens, vorzunehmen4 Die Arbeitnehmer der französischen Tochtergesellschaft, die zuvor die freiwillige Übertragung ihres Arbeitsverhältnisses im Rahmen eines Restrukturierungsplans des Konzerns abgelehnt hatten, waren der Ansicht, ohne Kündigungsgrund entlassen worden zu sein. Sie beriefen sich auf die „Mitarbeitgeberschaft“ und gaben an, die deutsche Muttergesellschaft schreibe ihrer Tochtergesellschaft strategische Entscheidungen vor, unter anderem die Entscheidung zur Übertragung des Geschäftsbereichs. Ihrer Ansicht nach mischte sich die Muttergesellschaft regelmäßig in die wirtschaftlichen und personellen Entscheidungen der Tochtergesellschaft ein, die sich in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu der Muttergesellschaft befand. Letztere habe zudem 80% der Produktion der Tochter abgenommen und die Preise festgesetzt. Nach Einschätzung der Arbeitnehmer hatte die Tochtergesellschaft keinerlei Autonomie. De facto habe die deutsche Muttergesellschaft die französische Belegschaft geführt und Entscheidungen im Hinblick auf die Entlassung französischer Arbeitnehmer getroffen.
Der Kassationshof folgerte daraus, dass eine Vermischung hinsichtlich der Interessen, der Aktivitäten und der Leitung der Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft bestand und somit der Tatbestand einer „Mitarbeitgeberschaft“ der Muttergesellschaft gegenüber den Arbeitnehmern der Tochtergesellschaft vorlag.
In der Praxis lässt sich feststellen, dass die gemeinsam verfolgte Strategie in vielen Konzernen eine eher zentralisierte Konzernstruktur erforderlich macht, manches Mal auch im Hinblick auf personelle Belange. Wie sich vermuten lässt, ist die Grenze, dass sich eine Muttergesellschaft der Gefahr einer Einstufung als Mitarbeitgeberin ausgesetzt sieht, wenn die Tochtergesellschaft im Rahmen ihrer Schließung nicht über „ausreichende Mittel“ verfügt, schnell erreicht bzw. fließend5.
Vor kurzem wurden die Kriterien der Rechtsprechung für die Einstufung als Mitarbeitgeber genauer festgelegt bzw. eingeschränkt6.
Gemäß der Entscheidung vom 2. Juli 2014 im Fall „Molex“7 kann eine Konzerngesellschaft nur dann als Mitarbeitgeberin gegenüber den Arbeitnehmern der Tochtergesellschaft eingestuft werden, wenn eine „über die erforderliche Abstimmung wirtschaftlicher Vorgänge zwischen Konzerngesellschaften und den ggf. dadurch bedingten Zustand der wirtschaftlichen Beherrschung hinausgehende Vermischung von Interessen, Aktivitäten und Leitung zwischen Tochter- und Muttergesellschaft vorliegt, die durch eine Einmischung in die wirtschaftliche und personelle Führung dieser Gesellschaft zum Ausdruck kommt.“ Im vorliegenden Fall waren die Umstände ähnlich jenen im Fall Jungheinrich: Die im Rahmen eines Sozialplans entlassenen Arbeitnehmer fochten ihre Entlassung an und verklagten die amerikanische Muttergesellschaft.
Die Entscheidung im Fall Molex zeugt vom Willen der Richter, den Tatbestand der „Mitarbeitgeberschaft“ auf besondere Ausnahmefälle zu beschränken, wie vor allem auf solche, die im Rahmen von Insolvenzverfahren festgestellt werden. Als Beispiel sei hier die faktische Geschäftsführung genannt, deren Ziel es ist, eine Durchgriffshaftung zu begründen. Dies bedeutet wiederum aber nicht, dass die Mitarbeitgeberschaft allein in Insolvenzsituationen gegeben sein kann, wie die obigen Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen.
Die Tatsache, dass das Management der Tochtergesellschaft aus dem Konzern stammt und die Muttergesellschaft in ihrer Konzernstrategie Entscheidungen im Hinblick auf das Schicksal der Tochtergesellschaft trifft und sich verpflichtet, die erforderlichen Mittel zur Finanzierung der sozialen Maßnahmen bei einer Standortschließung und anschließendem Stellenabbau bereitzustellen, ist für die Begründung einer „Mitarbeitgeberschaft“ nicht ausreichend.
Der Kläger kann nicht mehr nur eine reine Vermischung im Hinblick auf die Unternehmensführung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft anführen, sondern muss beweisen, dass eine dezidierte Einmischung der Muttergesellschaft in die wirtschaftliche und personelle Führung der Tochtergesellschaft vorliegt, die über die allgemeine Konzernpolitik hinausgeht.
Die Muttergesellschaften sind jedoch durch die engere Auslegung des Begriffes der „Mitarbeitgeberschaft“ keineswegs vor Rechtsstreitigkeiten gefeit. Die Abgrenzung zwischen Angelegenheiten, die der Konzernführung obliegen, und solchen auf der Ebene der Tochtergesellschaft bleibt unscharf, sodass ausreichend Zweifel gesät werden können, um den Weg für einen Vergleich zu ebnen.
Wird die beklagte Muttergesellschaft vom Gericht als Mitarbeitgeberin eingestuft, so wird diese zur Übernahme sämtlicher Schadensersatzzahlungen im Zusammenhang mit der Beendigung der Arbeitsverträge verurteilt. Zuständig ist das Arbeitsgericht.
In der Praxis ist die Problematik der „Mitarbeitgeberschaft“ vor allem in Insolvenzfällen der französischen Tochtergesellschaft akut, da die Ausgleichsansprüche zugunsten der Arbeitnehmer oftmals drastisch gering ausfallen; Die Versuchung ist daher groß, sich das Geld dort zu holen, wo es vorhanden ist.
II. Gibt es für entlassene Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft eine Alternative zur „Mitarbeitgeberschaft“?
Lässt sich die „Mitarbeitgeberschaft“ nicht begründen, können die Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft die Muttergesellschaft ggf. alternativ auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung verklagen. Beispiele gibt die Rechtsprechung.
Mit zwei aufsehenerregenden Entscheidungen vom 8. Juli 2014 („SOFAREC“)8 hat der französische Kassationshof eingeräumt, dass die Muttergesellschaft (in diesem Fall Alleingesellschafterin) von den Arbeitnehmern ihrer Tochtergesellschaft auf der Grundlage der Haftung für unerlaubte Handlungen in Anspruch genommen werden kann, sofern sie (i) Entscheidungen zum Nachteil der Tochtergesellschaft getroffen hat, die zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Tochtergesellschaft führten und (ii) in keiner Weise für sie von Nutzen waren. Dieses Verschulden hatte zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft und folglich zu einem massiven Stellenabbau geführt.
Während das Gericht auf der einen Seite die Klagemöglichkeiten wegen „Mitarbeitgeberschaft“ einschränkt, öffnet es auf der anderen Seite eine weite Flanke für die Anerkennung einer Deliktshaftung der Muttergesellschaft zugunsten der Arbeitnehmer ihrer Tochtergesellschaft. Das Verschulden der Muttergesellschaft ist dabei zu unterscheiden von den Verfehlungen, die im Rahmen eines Sozialplans oder einer Neueingliederungsverpflichtung dem Arbeitgeber angelastet werden.
Der wieder gutzumachende Schaden ist dabei deutlich geringer als im Falle der „Mitarbeitgeberschaft“ und beschränkt sich auf die Entschädigung eines Chancenverlusts. Im vorliegenden Fall erhielt jeder Arbeitnehmer 3.000 EUR – eine Summe, die zweifellos deutlich niedriger ist als der Betrag, der wegen einer „Mitarbeitgeberschaft“ hätte erreicht werden können.
In jedem Fall sind die Arbeitnehmer französischer Tochtergesellschaften einem heiklen oder gar anmaßenden Verhalten seitens des Konzerns, für den sie tätig sind, nicht hoffnungslos ausgeliefert, und können den Konzern bzw. insbesondere die Muttergesellschaft unter Druck setzen und zur „sauberen“ Schließung der französischen Tochtergesellschaft zwingen.
1Metaleurop, Flodor, Jungheinrich
2Gesetz Nr. 2014-384 vom 29. März 2014 zur „Zurückgewinnung der Realwirtschaft“ („visant à reconquérir l’économie réelle“)
3Cass. soc., 18. Januar 2011, Nr. 09-69.199
4Schließlich wurde dennoch ein Insolvenzverfahren gegen die französische Tochtergesellschaft eröffnet.
5Ausreichende Mittel“ entsprechen konkret einer Summe zwischen 40.000 und 50.000 EUR je entlassenen Arbeitnehmer (entspricht in etwa einem Jahresgehalt).
6Cass. soc. 18. Dezember 2013, Nr. 12-25.686
7Cass. soc., 2. Juli 2014, Nr. 13-15.208, Molex International Inc / Alunni Bravi
8Cass. soc. 8. Juli 2014, Nr. 13-15.573; Cass. soc. 8. Juli 2014, Nr. 13-15.470