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Die Einführung des sog. Mini-Steuerrechtsmissbrauchs für Konstrukte, die hauptsächlich ein steuerliches Ziel verfolgen
Art. 109 des Finanzgesetzes für 2019 führt unter Art. L. 64 A der Steuerverfahrensordnung (Livre des procédures fiscales, im Folgenden „LPF“) ein neues Verfahren ein, das es der Finanzverwaltung ermöglichen soll, gegen Steueroptimierungskonstrukte vorzugehen, die einem hauptsächlich steuerlichen Ziel dienen. Nicht zum ersten Mal versucht der Gesetzgeber hier, den Begriff des „steuerlichen Rechtsmissbrauchs“ durch Gesetzesumgehung (abus de droit fiscal) auszuweiten, der bisher nur in Art. L. 64 LPF [restriktiver] als „Konstrukt, das einem ausschließlich steuerlichen Ziel dient“, definiert ist. Der erste Versuch im Finanzgesetz für 2014 war vor dem Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) gescheitert, weil er sowohl gegen den (strafrechtlichen) Bestimmtheitsgrundsatz als auch gegen das Ziel von Verfassungsrang der Zugänglichkeit und Verständlichkeit des Gesetzes verstieß (Cons. const. 29.12.2013, n° 2013-685). Der Verfassungsrat hatte insbesondere die Höhe der mit einem Verstoß einhergehender Bußgelder hervorgehoben und dem Gesetzgeber aufgegeben, hinreichend präzise Vorgaben und eindeutige Formulierungen zu verwenden.
Das neue Verfahren des sog. Mini-Rechtsmissbrauchs wird in einer deutlich geänderten Konstellation eingeführt, denn Art. 64 LPF bleibt unverändert bestehen. Die neue Bestimmung führt zu einem zweistufigen Rechtsmissbrauchsbegriff. Die Finanzverwaltung kann eine etwaige Neuveranlagung nunmehr entweder auf das Vorliegen eines Steuerkonstrukts mit ausschließlich steuerlicher Zielsetzung (dann von Art. 64 LPF, sowie Strafzuschläge in Höhe von 40 % oder 80 %) oder aber auf ein solches mit hauptsächlich steuerlicher Zielsetzung im Sinne des neuen Art. L. 64 A LPF, wofür noch keine spezifischen Strafzuschläge (außer den allgemein anwendbaren) vorgesehen sind.
> Ein weites Verständnis des Konzepts des Rechtsmissbrauchs im Steuerrecht:
Der neue Art. 64 A LPF ermöglicht es der Finanzverwaltung, sich diejenigen Handlungen nicht entgegenhalten zu lassen, deren hauptsächliches Ziel darin besteht, durch eine bewusst buchstabengetreuen Anwendung der Texte oder Entscheidungen, die der Absicht ihres Autors zuwiderläuft, die Steuerlast des Steuerpflichtigen, die er angesichts seiner Verhältnisse oder Tätigkeiten hätte tragen müssen, falls die Handlungen nicht vorgenommen worden wären, zu umgehen oder zu mindern.
Diese Bestimmung orientiert sich direkt an der bestehenden Definition des Rechtsmissbrauchs in Art. 64 LPF. Dennoch weicht sie in zwei wichtigen Punkten von ihr ab.
Zum einen beinhaltet das allgemeine Rechtsmissbrauchsverfahren die Alternative zwischen juristisch fiktiven (bzw. simulierten) Operationen, auf der einen, und solchen mit ausschließlich steuerlicher Zielsetzung (bzw. Gesetzesumgehung), auf der anderen Seite. Der Mini-Steuerrechtsmissbrauch übernimmt jedoch nur den zweiten Teil der Alternative, namentlich den steuerlichen Rechtsmissbrauch durch Gesetzesumgehung.
Zum anderen stimmen die jeweiligen Begriffe der „Gesetzesumgehung“ nur teilweise miteinander überein. Es müssen grundsätzlich immer zwei Bedingungen zugleich vorliegen, damit der Tatbestand des „Rechtsmissbrauchs durch Gesetzesumgehung“ erfüllt ist, nämlich, als objektives Kriterium, die buchstabengetreue Anwendung einer Norm des Steuerrechts entgegen ihrem ursprünglich vom Gesetzgeber vorgesehenen Zweck, sowie, als subjektives Kriterium, das Verfolgen einer steuerlichen Zielsetzung. Die Tatbestandsvoraussetzung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverfahrens einer „ausschließlich steuerlichen Zielsetzung“ wird jedoch durch eine „hauptsächlich steuerliche Zielsetzung“ ersetzt.
Bei der Anwendung der Tatbestandsvoraussetzung der „hauptsächlich steuerlichen Zielsetzung“ scheint besondere Vorsicht geboten. Der Staatsrat (Conseil d’Etat) hat zwar bereits anerkannt, dass auch bei Vorliegen eines „nicht-steuerlichen Vorteils von zu vernachlässigendem Umfang und außer Verhältnis zum erzielten steuerlichen Vorteil“ ein Rechtsmissbrauch bejaht werden kann (CE 17.07.2013, n° 352.989). Eine Interpretationsmöglichkeit der „hauptsächlichen, steuerlichen Zielsetzung“ könnte sein, dass diese z.B. mehr als 50 % des Gesamtvorteils der Transaktion darstellt. Andererseits ist ein Großteil der nicht-steuerlichen (etwa gewerblichen oder familiären) Motivationen für eine Operation schwer zu quantifizieren. Der Steuerpflichtige sieht sich außerdem dem Risiko abweichender Auslegungen der einzelnen Gerichte ausgesetzt, solange kein einheitlicher Beurteilungsmaßstab für das Kriterium der „hauptsächlich steuerlichen Zielsetzung“ vorgegeben ist.
> Ein zweistufiges Verfahren zur Bekämpfung des Rechtsmissbrauchs:
So wie im allgemeinen Rechtsmissbrauchsverfahren auch, können die im Rahmen des neuen Mini-Steuerrechtsmissbrauch-Verfahrens entstehenden Streitigkeiten auf Antrag des Steuerpflichtigen oder der Finanzverwaltung dem Komitee für den steuerlichen Rechtsmissbrauch (Comité de l’abus de droit fiscal, im Folgenden CADF) zur Abgabe einer Stellungnahme vorgelegt werden. Eine andere Maßnahme des Finanzgesetzes für 2019 sieht vor, dass der Finanzverwaltung im Falle der Anrufung des CADF, unabhängig vom Inhalt der Stellungnahme, die Beweislast für die Begründetheit der Nachveranlagung obliegt.
Die neue Vorschrift zum Mini-Steuerrechtsmissbrauchs sieht keine gesonderte Strafvorschrift vor, falls die Finanzverwaltung gegen eine Operation mit hauptsächlich steuerlicher Zielsetzung vorgehen möchte. Artikel 1729, b CGI, der ein Strafzuschlag in Höhe von 40 % oder 80 % im Falle eines Rechtsmissbrauchs im Sinne von Art. 64 LPF vorsieht, ist (vorerst) nicht angepasst worden, um eine Anwendung dieser Strafvorschriften auch auf Operationen mit „hauptsächlich steuerlicher Zielsetzung“ zu ermöglichen.
Allerdings besteht für die Finanzverwaltung nach wie vor die Möglichkeit, gegebenenfalls andere Strafzuschläge, wie z.B. in Höhe von 80 % wegen „unlauterer Machenschaften“ oder in Höhe von 40 % wegen „beabsichtigter Fehler/Unzulänglichkeiten“ (Art. 1729, a und c CGI). Dabei muss die Verwaltung, die Anwendung der Strafvorschriften jeweils unabhängig vom Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs begründen können.
> Inkrafttreten:
Diese Maßnahme ist grds. auf Berichtigungen anwendbar, die ab dem 1. Januar 2021 für ab dem 1. Januar 2020 vorgenommene Operationen zugestellt werden.
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2. Die Stellungnahme des Komitees für steuerlichen Rechtsmissbrauch hat grundsätzlich keinen Einfluss auf die Verteilung der Beweislast mehr
Art. 202 des Finanzgesetzes für 2019 ändert die Verteilung der Beweislast im Falle der Anrufung des CADF.
Wenn der Steuerpflichtige nicht die Ansicht der Steuerverwaltung über eine Berichtigung, die ihm im Rahmen des Verfahrens über den Rechtsmissbrauch (Art. L. 64 LPF) zugestellt worden ist, teilt, kann der Rechtsstreit auf Antrag des Betroffenen oder der Steuerverwaltung vor das CADF gebracht werden.
Das vorliegende Gesetz hat den Anwendungsbereich dieses Verfahrens erweitert (Art. L. 64 A LPF nF): dasselbe gilt also nunmehr auch im Rahmen von Berichtigungen, die sich auf (ab 1. Januar 2020 angewendete) Steuerkonstrukte mit einem hauptsächlich steuerlichen Zwecken dienenden Ziel beziehen.
Bis vor der Reform des Finanzgesetzes trug die Finanzverwaltung gem. Art. L. 64 Abs. 3 LPF vor Gericht die Beweislast, falls sie in ihrer abschließenden Entscheidung von der Stellungnahme des CADF abgewichen ist. Im umgekehrten Fall, wenn also die Nachveranlagung der Finanzverwaltung und die Stellungnahme des CADF übereinstimmen, war der Steuerpflichtige beweisbelastet. Schließlich, falls das CADF gar nicht angerufen wurde, lag die Beweislast ebenfalls bei der Finanzverwaltung.
Die Änderung der Beweislastverteilung zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigem bei Anrufung des CADF durch das Finanzgesetz, orientiert sich an der Vorschrift des Art. L. 192 LPF zur Anrufung der Kommission für direkte und Umsatzsteuern (Commission des impôts directs et des taxes sur le chiffre d’affaires). Dazu wird Art. L. 64 Abs. 3 LPF aufgehoben und andere Normen entsprechend angepasst.
Sofern der Steuerpflichtige also nach Erlass des Steuerbescheids für weitere Steuern gerichtlich Einspruch erhebt, trägt die Finanzverwaltung nun grundsätzlich die Beweislast, unabhängig von der Stellungnahme des CADF.
Allerdings findet ausnahmsweise eine Beweislastumkehr zulasten des Steuerpflichtigen statt, wenn:
- in der Buchführung grobe Unregelmäßigkeiten auftreten, falls der Steuerbetrag entsprechend der Stellungnahme des CADF veranlagt wurde (andernfalls ist weiterhin die Finanzverwaltung beweisbelastet), oder
- die Handelsbücher oder ein entsprechender Ersatz der Finanzverwaltung nicht vorgelegt wurden.
Gemäß Art. 202 Abs. V des Finanzgesetzes finden die geänderten Vorschriften auf Berichtigungen ab dem 1. Januar 2019 Anwendung.
Christophe Jolk